Klopf-klopf, wer ist da?

Naturmedizin 3/2020

Tinnitus: Ein Phantom im Ohr

Zertifizierte Fortbildung
Tinnitus ist eine auditive Wahrnehmung ohne dazugehörigen auditiven Stimulus. Betroffene hören ein Phantomgeräusch, etwa ein Brummen oder Pfeifen, das akut oder chronisch sein kann. Das Auftreten von Tinnitus ist mit akustischem Trauma, chronischem Hörverlust, emotionalem Stress oder spontanem Auftreten assoziiert. Die grundlegenden Mechanismen der Entstehung von Tinnitus sind bis heute nicht geklärt, und es gibt viele Hypothesen. Bisher gibt es keine kurative Therapie für Tinnitus. Der aktuelle Stand der Wissenschaft schlägt eine sorgfältige Diagnostik und anschließend individuell angepasste Therapie zur Behandlung vor.
Die Evaluation von Patienten mit neu diagnostiziertem Tinnitus ist abhängig von dem möglichen Auslöser (z.B. akutes akustisches Trauma), dem Tinnitustyp (z.B. pulsartig) und der Assoziation mit anderen audiologischen Beeinträchtigungen (z. B. einseitiger Hörverlust). Es wird eine detaillierte Anamnese (Medikamente, Tumorerkrankungen, etc.) und sorgfältige klinische Untersuchung von Kopf und Nacken mit neurologischer Testung und Audiogramm empfohlen. Spezielle weiterführende Tests können bei pulssynchronem Tinnitus, Raumforderungen im Mittelohr oder einseitigem sensorischem Verlust im Audiogramm nötig sein. Ein pulssynchroner Tinnitus kann u.a. Symptom eines erhöhten Hirndrucks, einer AV-Fistel der Dura oder einer anderen vaskulären Läsion im Gehirn sein und bedarf einer weiteren Abklärung. Diese Red Flags sollten Ärzte während der Diagnostik im Hinterkopf haben, um gefährliche Verläufe frühzeitig zu erkennen und adäquat zu behandeln. Psychopathologisch bringt Tinnitus als chronische Erkrankung ein hohes Maß an Leid und Beeinträchtigung für die Patienten mit sich. Studienergebnissen zufolge leiden in den USA 10 von 100 Erwachsenen an Tinnitus. Die Prävalenz von Tinnitus steigt auf 15 von 100 bei Beschäftigten, die dauerhaft Berufslärm ausgesetzt sind. Patienten bezeichnen ihren Tinnitus als belastend und kräftezehrend und leiden vor allem an Schlafstörungen, Konzentrationsmangel und einer Beeinträchtigung ihrer kognitiven Fähigkeiten im Alltag. Eine Linderung der Symptomatik können die aktuell verwendeten Therapiemodelle, wie die Tinnitus-Retraining-Therapie (= TRT) und verhaltenstherapeutische Ansätze, schaffen. Bei der TRT werden neben verhaltenstherapeutischem Training sogenannte Tinnitus- Noiser eingesetzt. Hierbei handelt es sich um Audiogeräte, die dem Patienten ein weniger störendes Geräusch anbieten und somit das als störend empfundene Tinnitusgeräusch in den Hintergrund schieben. Unter den Verhaltenstherapien gibt es viele, die kaum evidenzbasierte Erfolge versprechen. Hierzu zählen u. a. die ACT (= Acceptance and Commitment Therapy), CBT (= Cognitive Behaviour Therapy) und die MBSR (= Mindfulness-Based Stress Reduction). Alle Therapieansätze liefern den Patienten Bewältigungsstrategien, um mit dem Tinnitus besser umzugehen. Lediglich die kognitive Verhaltenstherapie (CBT) konnte in Studien als effektiver Ansatz mit ausreichend Evidenz belegt werden. Sowohl bei der TRT als auch der CBT wird nicht die Ursache behandelt, sondern die Auffassung und Bewertung des Geräusches durch den Patienten. Es soll dabei vermittelt werden, das Phantomgeräusch weniger dominant wahrzunehmen, um ein stressfreieres Leben mit dem Tinnitus zu ermöglichen. Solange es keine kurative Therapie des Tinnitus gibt, steht neben der gründlichen Suche nach der Ursache des Tinnitus beim Patienten auch die effektive Behandlung der emotionalen und psychischen Belastung durch das Phantomgeräusch an vorderster Stelle und sollte zum größtmöglichen Erfolg möglichst individuell auf den einzelnen Patienten zugeschnitten und im Verlauf evaluiert und gegebenenfalls angepasst werden.


Hinweis: Dieser Artikel ist Teil einer CME-Fortbildung.

Quelle: Piccirillo JF et al.: Tinnitus. JAMA 2020. Online erschienen am 16.03.2020. doi:10.1001/ jama.2020.0697

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