Im Gespräch

Naturmedizin 2/2020

Naturheilkundliche Diätetik bei chronischen Magen-Darm-Erkrankungen

Andrea Chiappa ist Oecotrophologe und erster Vorsitzender der Deutschen Fastenakademie; seit 1996 arbeitet er an den Themen Ernährung, Fasten und Naturheilkunde. Bereits seit seiner Studienzeit begeistert ihn das Fasten. Mit den Werken Otto Buchingers und mit seiner Tätigkeit in der Klinik Buchinger am Bodensee sprang der (naturheilkundliche) Funke auf ihn über. andrea.chiappa@fastenakademie.de
 
Können Magen-Darm- Erkrankungen diätetisch behandelt werden?
Ja! Unter den bedingt ernährungsabhängigen Krankheiten führt Dr. Hellmut Lützner* Magen-Darm-Erkrankungen auf, wie etwa chronische Gastritis, Gastroenteritis, chronische Obstipation, Divertikulose, Colitis ulcerosa und M. Crohn im Frühstadium oder in der Rehabilitationsphase – soweit sie nicht in klinisch-gastroenterologische Behandlung gehören! Dann ist eine Intervention aus der naturheilkundlichen Diätetik durchaus Erfolg versprechend.
 
Was verstehen Sie unter naturheilkundlicher Diätetik?
Der Darmpatient, der häufig keine belastende, allergenreiche oder ballaststoffreiche Ernährung verträgt, braucht nach dem naturheilkundlichen Modell eine reizarme Schonkost. Diverse Formen des Fastens und Intensivdiätetik, z. B. nach Dr. Otto Buchinger und Dr. Hellmut Lützner, stellen eine größtmögliche Schonung des Verdauungssystems dar.
 
Intensivdiätetik? Können Sie erläutern?
Hierzu gehören sehr niederkalorische Maßnahmen wie Fasten und Rohkost bzw. Frischkosternährung. „Diätetik“ meint als Begriff aber nicht nur die Ernährung, sondern auch die gesamte Lebensweise. Gemeinsam mit der Wahl der Art, Dauer und Intensität weiterer Reize, wie Bewegung, Ruhe, Schlaf, Sonne, Kälte-Wärme, ist es die Kunst des Arztes, das intensivdiätetische Programm zu wählen. Hellmut Lützner prägte den Begriff der „Aktiven Diätetik“, der aufzeigt, dass hierzu auch eine didaktische Strategie gehört, die dem Patienten hilft, Klarheit, Ordnung und Selbstverantwortung in Bezug auf seine Lebensführung zu erlangen.
 
Nach welchen Prinzipien geht man vor?
Ein wichtiges Prinzip ist das naturheilkundliche Prinzip des Reiz-Reaktions-Modells, auch Hormesis, auf Deutsch Anschub, Ansporn, genannt. Dabei wird ein Stimulus, der initial meist einen Stress bzw. eine Belastung für den Körper darstellt, niedrig dosiert und gezielt eingesetzt, um eine Körperreaktion anzuregen, die die Gesundung unterstützt. Ein Beispiel wären dosierte, körperliche Bewegungsreize, die zunächst eine Stressreaktion bewirken, als Gegenreaktion dann aber zur besseren Zell- und Organfunktion und schließlich zu einer besseren Leistungskapazität führen. Dieses Trainingsprinzip funktioniert bei allen physiologischen Reizen. Ernährungsmedizinisch bewährt hat sich ein Stufenplan: Einer Fastenphase kann eine Rohkostphase folgen, die dann schließlich in eine langfristig durchgeführte Vollwerternährung mündet.
 
Was verstehen Sie unter naturbelassener Vollwert-Ernährung?
Eine gesund erhaltende Reizkost: den Verzehr vorwiegend pflanzlicher und möglichst gering verarbeiteter Lebensmittel – Gemüse, Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte, Kräuter, Gewürze, Nüsse, Samen und Obst, möglichst aus biologischem Anbau – sowie von Milch und Milchprodukten. Etwa die Hälfte der Lebensmittel wird als Frischkost verzehrt. Fleisch, Fisch und Eier spielen eine untergeordnete Rolle. Starke Be- und Verarbeitung der Lebensmittel und Zusatzstoffe sollten vermieden werden. Zudem ist das Essverhalten wichtig: Das Essen und Verdauen während einer Stresssituation sind dringlichst zu vermeiden, gründliches Kauen ist ein Muss!
 
Wie kann so eine Intensivdiätetik letztendlich ein Erkrankungsgeschehen im Darm beeinflussen?
Das gestufte intensivdiätetische Regime nimmt einerseits dem Patienten das weg, was ihn stört: zu starke Reize bzw. Fehlreize aufgrund zu üppiger und stark verarbeiteter Nahrung, alimentäre Entzündungsfaktoren und unregelmäßiges Essen in Stresssituationen. Andererseits führt die reizarme Kost, häufig in Form einer niederkalorischen Trinkkur, dem Patienten das zu, was ihm fehlt: Rhythmus, Ruhe, Flüssigkeit, Mikronähstoffe und sekundäre Pflanzenstoffe. Also Entlastung auf der einen Seite, Versorgung auf der anderen Seite.
 
Bekannt ist ja auch, dass die Entzündungsneigung, die bei vielen Darmerkrankungen auch eine Rolle spielt, diätetisch beeinflusst werden kann. Welche diätetischen Möglichkeiten hat man hier?
Im Anschluss an ein intensivdiätetisches Stufenprogramm und wenn eine vollständige Remission sichergestellt ist, kann eine vegetarisch-vegane Vollwerternährung als Dauerkostform sehr gute langfristige Erfolge bewirken. Eine naturbelassene vegetarisch- vegane Ernährung führt dem Patienten eine große Menge antientzündlicher und präbiotischer Stoffe zu. Gleichzeitig wird die Zufuhr proinflammatorischer Faktoren vermieden, wie etwa der Arachidonsäure. Entzündungsfördernde Eicosanoide im Körper werden nämlich aus der in tierischen Lebensmitteln vorkommenden Fettsäure Arachidonsäure gebildet. Die Vorteile einer intensivdiätetischen Vorschaltung sind vielfältig: Darmsanierung in der Schonphase, Umstimmung des Immunsystems, Reflexion und Neuorientierung des Ernährungs- und Lebensstils.
 
Mit welchen Mechanismen kann eine solche Intervention Entzündungen beeinflussen?
Hohes Übergewicht und zu viel Bauchfett fördern chronisch-entzündliche Prozesse, daher ist Gewichtsregulierung ein wichtiger Faktor. Diese findet auf natürliche Weise während der intensivdiätetischen Intervention statt. Auf eine fett- und kalorienreiche Kost dagegen reagiert das Immunsystem ähnlich wie auf eine bakterielle Infektion, daher sind Fett- und Kalorienreduktion zwei entscheidende Bausteine, um chronischen Entzündungen entgegenzuwirken. Ein weiterer Aspekt ist die Wahl entzündungshemmender Nahrungsmittel. Vegetarier und Veganer weisen weniger entzündliche Erkrankungen als „Allesesser“ auf. Allerdings bleibt lange nach der Umstellung auf gesunde Kost die Körperabwehr hyperaktiv. Eine Fastentherapie von 7 bis 40 Tagen und eine nachfolgende pflanzenbetonte Kost zeigen in Bezug auf Entzündungen vielfältige Wirkungen: Immunologisch kommt es zum Abbau krankhafter Ablagerungen, z. B. AGEs und Antigen-Antikörper- Komplexe; im darmassoziierten Immunsystem kommt es zum Zufuhrstopp proinflammatorischer Nahrungsbestandteile, wie der Arachidonsäure und der Allergene. Endokrinologisch beobachtet man: Auf der einen Seite bewirkt ein sanfter Anstieg von Kortisol, Ketonen, Serotonin, Endorphinen und Endocannabinoiden per se bereits eine Entzündungs- und Schmerzhemmung, auf der anderen Seite führen weniger Insulin, IGF-1, CRP, TNFa, IL-6 und insgesamt weniger oxidativer Stress ihrerseits auch zu einer Besserung immunologischer und entzündlicher Prozesse. Grundlegend ist auch die Fettsäuremodifikation, also die Umstellung auf ein günstiges Omega-3-Omega- 6-Verhältnis der Fettsäuren in der Nahrung. Zahlreiche Studien zeigen, dass ein Omega-3-Omega- 6-Verhältnis von ca. 1:2 in der Ernährung die Entstehung proinflammatorischer Eicosanoide enorm hemmt, während entzündungshemmende Mediatoren gesteigert werden. Eine an Arachidonsäure arme Diät gilt auch in der ernährungsmedizinischen Rheumatherapie als Standard.
 
Ist auch das aktuell im Trend liegende Intervallfasten eine Möglichkeit, Störungen des Magen-Darm-Traktes positiv zu beeinflussen?
Ja, ich sehe oft Patienten, die durch eine Rhythmisierung des Essens durch Ess- und Verdauungspausen eine Besserung ihrer Beschwerden erfahren. Vor allem Menschen mit Dyspepsien, Flatulenz, Reizdarm und Sodbrennen profitieren bereits nach wenigen Tagen vom Intervallfasten. Dabei gilt es herauszufinden, welche Intervallform geeignet ist.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

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