Im Gespräch

Naturmedizin 1/2020

Jede Krankheit hat einen emotionalen Hintergrund

Gefühle haben in der klassischen Schulmedizin keinen guten Ruf: Sie sind zu wenig konkret, und jeder fühlt anders. Deswegen scheint es sachdienlich, sich an naturwissenschaftlich beweisbare Erkenntnisse zu halten. Doch Prof. Albrecht Hempel ist in seinem Praxisalltag zu anderen Ergebnissen gekommen. Aus seiner Sicht wird die Bedeutung unserer Gefühle dafür, ob wir gesund oder krank sind, unterschätzt. Viele Patienten werden krank, weil sie nicht auf ihre Gefühle gehört haben.
Was ist der Sinn von Gefühlen?
Alle unsere Gefühle, ganz gleich, ob wir sie nun mögen oder nicht, übermitteln uns immer bestimmte Botschaften.
 
Ist es komplizierter, schwierige Gefühle zu entschlüsseln?
Es dauert eine gewisse Zeit, bis die Botschaft eines unangenehmen Gefühls zu uns durchdringt. Deshalb ist dieses Gefühl ‚gezwungen‘, immer wieder aufs Neue aufzutauchen, jedes Mal länger zu bleiben und mit wachsendem Nachdruck dafür zu sorgen, dass wir uns irgendwann so unbehaglich fühlen, dass wir endlich reagieren. Manche Menschen spüren diese unwillkommene Aufforderung zur Handlung zuerst im Magen, andere haben schmerzende Beklemmung in der Herzgegend. Die Botschaft der schwierigen Gefühle ist: So, wie es ist, sollte es nicht bleiben.
 
Deswegen sind unangenehme Gefühle so nützlich?
Mehr noch: Sie sind unersetzlich! Und je unangenehmer sie für uns sind, desto eher sind wir bereit zu reagieren. Genau darin liegt ihre ‚Absicht‘, ihre Funktion im biologischen Sinne. Es ist an uns, ihre Botschaft zu verstehen und möglichst ohne Verzug auf sie zu hören. Gibt es grundsätzliche Gefühle? Ja, wir haben es mit sechs Grundgefühlen zu tun. Genauer gesagt: mit fünf plus einem Grundgefühl, denn eines von ihnen spielt eine eigene Rolle. Die ersten fünf Grundgefühle sind: Trauer, Liebe, Glück, Wut und Eifersucht. Das sechste ist die Angst. Biologisch haben diese sechs Gefühle den Sinn, Leben zu entfalten – niemals, es zu be- oder verhindern.
 
Warum spielt Angst eine besondere Rolle?
Die Angst nimmt eine Sonderrolle unter den Gefühlen ein. Sie ist in der Lage, in Sekundenbruchteilen sehr viel Energie bereitzustellen, um z. B. einer lebensbedrohlichen Situation zu entgehen. Wer Angst zu beseitigen versucht, erlebt noch mehr Angst. Wir müssen sie in unser Leben integrieren, denn unserer Angst verdanken wir zu einem wichtigen Teil genau dieses Leben. Damit Angst nicht die anderen Gefühle verdeckt, kann man trainieren, sie außerhalb des Körpers wahrzunehmen, beispielsweise als ein Käuzchen, das auf der Schulter sitzt und einen beschützt.
 
Wie können aus dem falschen Umgang mit Gefühlen Krankheiten entstehen?
Gefühle sind nicht nur körperlich zu verorten und beeinflussbar, sondern sie haben auch massive Auswirkungen auf das Befinden unserer Organe. Viele körperliche Beschwerden, egal ob chronisch oder nicht, bleiben so lange unerklärlich, bis wir auf die ursächlichen Zusammenhänge mit unseren Gefühlen sehen. Auch in dieser Hinsicht können wir also Körper und Gefühle nicht voneinander trennen. Ob Herzinfarkt, Augenlidflattern oder Hörsturz, all diese Beschwerden sind Ausdruck eines unausgewogenen Gefühlshaushalts, einer Verdrängung schwieriger Gefühle – die irgendwann unbarmherzig zurückschlagen.
 
Worin könnte ein richtiger Umgang mit Gefühlen bestehen?
Der besteht vor allem in einer bewussten Wahrnehmung der Gefühle. Laufen Sie also vor dem schwierigen Gefühl nicht davon. Das bringt nichts. Es ist auf lange Sicht ausdauernder und schneller als Sie. Richtiger Umgang bedeutet deswegen auch, für freie Bahn zu sorgen, indem Sie den Verfolger rechtzeitig bemerken und auf einen anderen Weg abbiegen. Einmal können Sie Veränderungen an Ihrem Umfeld herbeiführen, ein anderes Mal an Ihrer persönlichen Einstellung. Am Anfang steht aber immer die bewusste Wahrnehmung der Gefühle.
 
Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

Prof. Dr. med. Albrecht Hempel ist Internist, Kardiologe und langjähriger Hochschullehrer an der Charité. 2013 wechselte er an die Steinbeis-Hochschule zu Berlin als Leiter des Bereichs »Integrative medizinische Wissenschaften«. Er gründete 2006 das Zentrum für Energieund Umweltmedizin in Sachsen. Buch: Gesundheit ist auch Gefühlssache.

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