Das richtige Bauchgefühl

Naturmedizin 5/2019

Ernährung und Achtsamkeit

Das Wissen um eine gesunde Ernährung nimmt durch Forschungen im Bereich der Ernährungswissenschaften, Medizin und Biochemie ständig zu. Bei so viel Informationszuwachs sollten ernährungsbedingte Gesundheitsprobleme und Erkrankungen eigentlich abnehmen. Doch Statistiken zeigen das Gegenteil.
Anleitung für die Rosinenübung
Leg eine Rosine in deine Handfläche und betrachte sie, als sähest du sie zum ersten Mal. Wie sind ihre Form, ihre Farbe und ihre Oberfläche?
Nimm sie dann zwischen zwei Finger. Bewege sie zwischen den Fingern mehrfach hin und her. Wie fühlt sie sich an? Ist sie weich oder fest? Was passiert, wenn du sie leicht drückst? Leg danach die Rosine in den Mund und lass sie zunächst auf der Zunge ruhen. Was schmeckst du? Kannst du etwas riechen? Beginne langsam mit dem Zerkauen. Kaue mindestens 15- bis 20-mal. Mache zwischendurch Pausen, beschreibe genau, was du schmeckst. Dann erst schluckst du sie bewusst hinunter. Was empfindest du dabei?
Zudem sind 85 % der Menschen unzufrieden mit ihrem Ernährungsverhalten. Durch permanent neue Empfehlungen in den Medien und sozialen Foren für mehr Gesundheit, Wohlbefinden und gegen eine Vielzahl von Krankheiten sind viele Menschen total verunsichert, was sie eigentlich noch essen sollen oder dürfen. Die Suche nach dem „richtigen“ Essen erfolgt überwiegend kopfgesteuert. Das eigene Bauch- und Körpergefühl scheint immer mehr verloren zu gehen. Die Philosophie des achtsamen Essens plädiert für eine Ernährung mit Bauchgefühl, Herz und Verstand. Beim 19. aid-Forum im September 2016 im Wissenschaftszentrum Bonn wurde Achtsamkeit in der Ernährung durch bewusstes und genussvolles Essen von renommierten Experten in großer Runde diskutiert.
 
Was bedeutet achtsam essen?
Achtsam essen ist weder eine neue Diät noch eine Ernährungsform. Achtsamkeit hat ihre Wurzeln im Buddhismus und kann auf alle Formen des Lebens übertragen werden. Es geht um die Frage, wie wir mit uns und der Welt umgehen. Hierzu gehört auch unsere Haltung und Auseinandersetzung mit unserer Ernährung und Esskultur. Gerade beim Essen haben viele Menschen das Vertrauen in sich und ihre Urteilsfähigkeit in Sachen Ernährung verloren. Sie geben ihre Verantwortung an Werbung, Wissenschaft und diverse, zum Teil selbst ernannte Experten ab. Das eigene Bauchgefühl und das Geschmacksempfinden bleiben außen vor. Die Verwirrung der Verbraucher wird durch die Massenselbstkommunikation in den sozialen Netzwerken noch gesteigert. Kabat- Zinn hat mit Mindfulness-based Stress Reduction (MBSR) ein auf Achtsamkeit basierendes Stressmanagementprogramm entwickelt. Über die Bedeutung des Stressfaktors Ernährung schreibt er:
„Animiert vom Ideal ewiger Jugend und Schönheit, haben wir uns von der Realität des Körpers entfremdet und zu einer Gesellschaft entwickelt, in der gescheiterte Diäten und kalorienreduzierte Limonaden die üblichen Begleiterscheinungen der Suche nach dem ‚perfekten Körper’ sind. Sehr sinnvoll ist dieser ganze Körper- und Diätenkult nicht.
Vielleicht ist es an der Zeit zu erkennen, dass wir unsere Energien in falsche Kanäle leiten. Anstatt uns um wahres Wohlbefinden, wirkliche Heilung und echtes Glück zu bemühen, sind wir übermäßig mit unserem Gewicht und unserem äußeren Erscheinungsbild beschäftigt. Wir täten aber sehr viel mehr für unsere Gesundheit, wenn wir, anstatt auf der neurotischen Jagd nach einem Phantom unsere Energie zu verschwenden, uns gewissen Grundfragen zuwenden würden, wie derjenigen, was gerade jetzt in unserem Geist vorgeht, während wir auch schon als Reaktion darauf nach etwas Essbarem greifen. Das Gefühl des Heißhungers oder das impulsive Verlangen nach etwas ganz Bestimmtem würde uns auf diese Weise bewusst, und wir könnten die auslösenden Stimmungen, Gefühle und Gedanken wahrnehmen und weiterziehen lassen, bevor wir uns automatisch etwas in den Mund stecken.
Die Veränderung beginnt damit, einen inneren Prozess in Gang zu setzen, bei dem Sie versuchen, während des ganzen Tages (oder so oft Sie es eben schaffen) im Körper zu sein, sich in ihm zu spüren und im liebevollen und akzeptierenden Kontakt mit sich selbst zu bleiben. In Bezug auf das Essen bedeutet das konkret, der Entscheidung, etwas zu essen, in jedem Augenblick innerlich beizuwohnen. Es bedeutet, bei jedem Bissen mit allen Sinnen dabei zu sein und wirklich zu sehen, zu empfinden, zu schmecken und zu riechen, was Sie da verspeisen. Und es bedeutet, genau in sich hineinzuspüren, wie Sie sich vor, während und nach einer Mahlzeit fühlen.
Je mehr es Ihnen gelingt, bei der Erfahrung dieses Prozesses selbst zu bleiben und dabei alle hochkommenden Gefühle zu akzeptieren, auch die unangenehmen, umso klarer werden Ihnen Ihr Geist und Ihr Körper signalisieren, was Sie über Ihr Verhältnis zum Essen wissen müssen.
“ Wer achtsam essen möchte, braucht vor allem Zeit, um bewusste Essentscheidungen zu treffen, das Essen in Ruhe zu genießen und dann eine angenehme Sättigung zu spüren. Bei dieser speziellen Art der Aufmerksamkeit geht es nicht um die Einteilung der Lebensmittel in gut und schlecht bzw. gesund und ungesund. Im Vordergrund steht die Frage, wie wir essen.
Durch achtsames Essen können wir lernen, die eigenen Körpersignale wieder zu spüren, und dem natürlichen Gefühl von Hunger und Sättigung mehr Vertrauen schenken, als uns Ratgeberliteratur und Medien vorgeben. Unserer Esskultur mangelt es derzeit massiv an Selbstvertrauen. Dadurch delegieren die meisten Menschen ihre Eigenverantwortung an externe Personen, Institutionen und Gesellschaften. Besonders bemerkbar macht sich dieses Problem beim Thema Übergewicht. Abnehmen durch Achtsamkeit ist daher eine gute Alternative zum Diätenwahn. Im Volksmund heißt es: „Da waren die Augen mal wieder größer als der Mund.“ Aus Sicht der Achtsamkeit unterscheiden wir verschiedene Hungerarten (siehe Tabelle). Sie verdeutlichen die unterschiedlichen Gründe, warum und worauf wir gerade Hunger haben. Den Herz- oder Gefühlshunger können wir mit dem Belohnungszentrum im Gehirn in Verbindung bringen. Wenn wir uns nach Nähe, Anerkennung, Wertschätzung, Entspannung, Freude und Liebe sehnen, drückt sich damit kein körperlicher, sondern ein emotionaler Hunger aus.
 
Praxistipps
Achtsamkeit beim Essen lässt sich im Alltag mit kleinen Schritten erlernen und leicht umsetzen:
  • Grundregel: Setz dich zum Essen hin, lauf nicht herum.
  • Schalte alle Ablenkungen aus (PC, Handy, Fernseher, Radio), entferne Zeitungen und Arbeitspapiere.
  • Iss wenigstens eine Mahlzeit am Tag voller Achtsamkeit.
  • Schaffe dir eine Atmosphäre zum Essen, in der du dich wohlfühlst.
  • Beginne deine Mahlzeit mit einem achtsamen Bissen in Ruhe.
  • Schau die Speisen bewusst an; nimm Struktur, Farbe und Geruch der einzelnen Lebensmittel mit allen deinen Sinnen wahr.
  • Neben Nährwerten soll dein Essen dir vor allem einen Genusswert bieten.
  • Denke einmal über Ursprung, Produktion und Zusammensetzung deiner Speise nach.
  • Frage dich, ob du wirklich Hunger hast oder wonach du gerade verlangst.
  • Kau dein Essen langsam und mehrmals, speichele die Speisen nach dem Motto: „gut gekaut ist halb verdaut“, gut ein.
  • Lege nach ein paar Bissen dein Besteck für einen Moment ab.
  • Frage dich nach der Hälfte der Mahlzeit: Bin ich noch hungrig?
  • Achte auf deine Körpersignale während und nach dem Essen.
  • Iss öfter einmal bewusst nicht auf.
  • Sei in Gemeinschaft am Tisch bewusst der Langsamste beim Essen.
Achtsames Essen hilft, zu einer natürlichen und den individuellen Bedürfnissen angemessenen Ernährungsform zurückzufinden. Es gibt dabei keine strengen Regeln. Jeder kann sein eigenes Tempo wählen. Es gibt keine Listen mit erlaubten oder verbotenen Lebensmitteln. Dieses Prinzip lässt sich in allen Lebenssituationen einfach umsetzen und wirkt vor allem nachhaltig.

 

Abnehmen durch Achtsamkeit
Die eigentliche Ursache für Gewichtsprobleme liegt nicht (alleine) in der Kalorienbilanz. Nicht die Zusammensetzung unserer Nahrung lässt uns körpereigene Sättigungssignale überhören. Die wahrhaft belastenden Essmuster haben ihre Quelle im eigenen Bewusstsein. Entscheidend ist nicht, was wir essen, sondern, wie wir essen. Als schädliche Verhaltensmuster mit „schwerwiegenden“ Folgen für das Körpergewicht gelten hauptsächlich: zu viel Ablenkung, zu hastiges Essen und emotionales Essen durch belastende Gefühle (7). Diäten machen Essen zum Feind durch Verbote und Regeln. Dem Bedürfnis nach Genuss und Wohlbefinden steht auch noch das schlechte Gewissen gegenüber. Sie frustrieren die Menschen wegen ihres Jo-Jo-Effektes. Der Zwang zur Einhaltung von Diätvorschriften erzeugt Stress und führt zu einem erhöhten Cortisolspiegel.

Achtsamkeitsbasierte Methoden helfen beim Stressabbau, bei der Schmerzlinderung und wirken dem Suchtverhalten entgegen. Wissenschaftler der Universität Kalifornien konnten zeigen, dass übergewichtige und adipöse Frauen ohne Diätvorgaben mit MBSR-Übungen und Meditation nach neun Wochen ihr Gewicht stärker reduziert hatten und geringere Stresshormonspiegel im Blut aufwiesen als ihre Kontrollgruppe ohne Achtsamkeitsübungen. Abnehmen durch Achtsamkeit braucht Zeit und Geduld. Dafür ist der Erfolg nachhaltiger und gesünder als jede Diät. Mit wenigen Grundübungen lässt sich achtsames Essen mit allen Sinnen erlernen. Übungen zum Abnehmen durch Achtsamkeit:

  • Schau dein Essen mit dem Blick eines Malers an. Registriere Farben, Formen und Zusammenstellung der Speisen.
  • Berühre deine Lebensmittel mit der Hand. Wie fühlen sie sich an?
  • Schnuppere in dein Essen hinein. Welche Aromen und Gerüche nimmst du wahr?
  • Spüre den ersten Bissen im Mund, ohne zu kauen und zu schlucken. Wie fühlt er sich an?
  • Kaue langsam und gründlich. Welches Gefühl entsteht in deinem Mund und am Gaumen?
  • Achte beim Schlucken auf den komplexen Vorgang im Mund und Hals. Was fühlst du dabei?
  • Wo und wie spürst du dein Essen auf dem Weg bis in den Magen?
  • Nimm möglichst die ersten fünf Bissen deiner Mahlzeit durch Schauen, Tasten, Riechen, Schmecken und Spüren achtsam zu dir. Nimm wahr, was mit dir dabei geschieht.

 

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