30. Deutscher Schmerz- und Palliativtag, 7. − 9. März in Frankfurt

Neuro-Depesche 3/2019

Chronischer Kopfschmerz, Cannabis und mehr ...

Etwa 2.000 schmerztherapeutisch Tätige nahmen am 30. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) in Frankfurt am Main teil. Neue Forschungsergebnisse und Empfehlungen der DGS sorgten für eine lebhafte Diskussion rund um die Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzen.

Das Motto des Kongresses lautete „Individualisierung statt Standardiserung“.
 
Sorgfältige Diagnostik bei chronischen Kopfschmerzen
 
Bei chronischen Kopfschmerzen ist laut Prof. Andreas Straube, München, eine sehr sorgfältige Differenzialdiagnostik essenziell. „Chronisch“ stehe hier – im Gegensatz zu anderen Erkrankungen – nicht für eine besonders lange Krankheitsdauer, sondern für eine hohe Kopfschmerzfrequenz, nämlich an monatlich mehr als 15 Tagen (seit mind. drei Monaten). Differenzialdiagnostisch abzugrenzen seien neben der Migräne und den chronischen Spannungskopfschmerzen auch trigeminoautonome Kopfschmerzen wie der Clusterkopfschmerz mit migränösen Beleitsymptomen oder die Hemicrania continua, aber auch sekundäre Kopfschmerzformen wie der Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch oder die idiopathische intrakranielle Hypertension.
 
Chronische Migräne – Komorbidität erhöht das Risiko
 
„Jedes Jahr erleben 2,5 - 4,6 % der von episodischer Migräne (EM) Betroffenen eine Entwicklung hin zur chronischen Form“, berichtet Straube. Etwa der gleiche Anteil weise eine spontane Rückkehr von der chronischen Migräne (CM) zur EM auf. Zu den nachweislich modifizierbaren Risikofaktoren für eine Chronifizierung zählt der Neurologe unter anderem eine hohe Attackenfrequenz, somatische oder psychische Komorbidität, darunter besonders weitere Schmerzerkrankungen oder Depressionen, aber auch Medikamentenübergebrauch und Koffeinmissbrauch, Adipositas, Schnarchen und Schlafapnoe. Ein niedriger Bildungsstand, hohes Alter, Kopfverletzungen und bestimmte genetische Faktoren erhöhen ebenfalls das Risiko. Für weitere Faktoren wie etwa Allodynie, Entzündungsprozesse und Thromboseneigung gibt es Straube zufolge Hinweise auf chronifizierende Effekte.
 
Nichtmedikamentöse Prophylaxe
 
Dass die Basistherapie bei chronischer Migräne in einer nichtmedikamentösen Behandlung besteht, ist laut Straube mittlerweile selbstverständlich. Diese schließe die Förderung eines regelmäßigen Schlaf- Wach-Rhythmus sowie psychotherapeutische Maßnahmen ein. Letztere umfassen unter anderem Psychoedukation mit der Vermittlung eines biopsychosozialen Krankheitsmodells, Entspannungstechniken sowie kognitiv-verhaltenstherapeutisch basierte Verfahren einschließlich Biofeedback. Auch zur Akupunktur gäbe es mittlerweile Wirksamkeitsbelege.
 
Pro und Kontra: Nur Fertigpräparate oder auch Blüten?
 
Mit der seit März 2017 geltenden Gesetzesänderung ist unter bestimmten Voraussetzungen (ohne Beschränkung auf bestimmte Indikationen) die Verordnung sowohl von Cannabispräparaten mit definiertem Wirkstoffgehalt als auch von Cannabisblüten legal. Ob beide Zubereitungsarten Verwendung finden sollten, etwa zur Behandlung therapieresistenter chronischer Schmerzsyndrome, wird kontrovers diskutiert. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin rät ausdrücklich von den Blüten ab. „Durch die Zubereitungsprozeduren schwankt die Wirkstoffkonzentration zu sehr, die Dosis ist schwierig zu regulieren, und die Gefahr einer übertherapeutischen Dosierung hoch“, erklärte DGS-Vizepräsident Norbert Schürmann, Moers. Andere Schmerztherapeuten wiederum berichten über positive Verläufe, bei sehr niedrigen Dosen gerauchter Cannabisblüten, ohne Zeichen einer Toleranz- oder gar Abhängigkeitsentwicklung. Möglicherweise sei, so Dr. Patric Bialas, Homburg/Saar, die spezielle Pharmakodynamik nach Inhalation – sehr hoher, aber kurzer Wirkstoffpeak – für die Modulation einer fehlgeleiteten Schmerzverarbeitung sogar von Vorteil. Somit plädiert Bialas dafür, das Spektrum der für die Behandlung therapieresistenter Krankheiten oder auch in der Palliativsituation verfügbaren Cannabiszubereitungen nicht übereilt und ohne triftigen Grund einzuschränken.
 
Chronischer Schmerz - verändertes T-Zellmuster
 
PD Dr. Jens Michael Heyn und PD Dr. Benjamin Luchting, beide München, erhielten den diesjährigen Deutschen Förderpreis für Schmerzforschung und Schmerztherapie. Damit wurden ihre wissenschaftlichen Arbeiten gewürdigt, mit denen sie u. a. zeigen konnten, dass Menschen mit chronischen Rückenschmerzen oder neuropathischen Schmerzen spezifische Veränderungen in der Zusammensetzung ihrer T-Zellpopulationen aufwiesen. Dies betrifft eine signifikante Zunahme antiinflammatorischer Treg-Zellen und eine Abnahme proinflammatorischer Th17-Zellen. Die T-Lymphozyten scheinen demnach ein wichtiges Bindeglied im Dialog zwischen Schmerz- und Immunantwort zu spielen. Das Wissen darum kann möglicherweise bei Menschen mit chronischen Schmerzen die Basis für neuartige, spezifischere Therapiekonzepte bilden. TH

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